Lean und kein Ende der Missverständnisse? – Was wir auch heute noch daraus lernen können (Teil 1/3)
Unterstützende Informationen zum Podcast #28 und #29 | Missverständnisse Lean
Mit ihrer berühmten Studie „Die zweite Revolution in der Autoindustrie“ und dem Namen Lean Production lieferte das Massachussetts Institute of Technology (MIT) den Beleg für die erhebliche Überlegenheit der Japaner hinsichtlich Produktivität, Flexibilität, Schnelligkeit und Qualität [4]. Dies führt seitdem immer noch zu diversen Missverständnissen und dadurch letztendlich zu missglückten Reorganisationen in den Unternehmen weltweit. Einige dieser Missverständnisse und ihre Hintergründe werden in den nachfolgenden Beiträgen dargestellt, die auch in der heutigen Zeit, d.h. mit Blick auf aktuelle Wellen und Moden der Managementwelt, nachdenklich stimmen sollten.
Auslöser der Lean-Welle
Der Begriff „Lean Production“ oder deutsch „Schlanke Produktion“ wurde im Team von James Womack, Daniel Jones und Daniel Ross im International Motor Vehicle Programm (IMVP) geprägt. Auf Basis empirischer Studien, d.h. es wurde weltweit die Produktion und unternehmensinterne Organisation der Automobilproduzenten verglichen, stellten die Verfasser in ihrem Buch damals die These auf, dass die „Welt der Industrie“ einen revolutionären Wandel erlebt, der ähnlich bahnbrechend sei wie die Ablösung der manuellen Arbeit durch die Fließproduktion bzw. Massenproduktion.
Die untersuchten japanischen Unternehmen verfolgten nämlich kein „gepuffertes“ System – d.h. ein System, mit dem vor allem westliche Hersteller sich mit einer umfangreichen Lagerhaltung, auch zwischen einzelnen Arbeitsbereichen, gegen Produktionsausfälle, mit überzähligen Arbeitskräften gegen Personalengpässe und mit großzügigen Nacharbeitszonen gegen schlechte Produktqualität abzusichern versuchten.
Die Autoren stellten eine deutliche Überlegenheit der japanischen Methoden und Organisationsstrukturen fest und prägten dafür den Begriff „Lean Production“, der vor allem die bei Toyota zur Perfektion entwickelte Form der Produktion beschrieb. Um dies zu verdeutlichen, formulierten Womack, Jones und Roos zwei Sätze, die in der damaligen Zeit in der Management- und Wirtschaftsliteratur sehr häufig zitiert wurden und weltweit die Herzen des Managements höherschlagen ließen:
„Lean Production ist „schlank“, weil sie von allem weniger einsetzt als die Massenfertigung – die Hälfte des Personals in der Fabrik, die Hälfte der Produktionsfläche, die Hälfte der Investition in Werkzeuge, die Hälfte der Zeit für die Entwicklung eines neuen Produktes. Sie erfordert auch weit weniger als die Hälfte des notwendigen Lagerbestands, führt zu viel weniger Fehlern und produziert eine größere und noch wachsende Vielfalt von Produkten.“ ([4], S.19).
Womack, Jones und Roos arbeiteten viele verschiedene Aspekte heraus, die aus ihrer Sicht den Unterschied zwischen Produktivität, Qualität und Montagezeiten zwischen japanischen und westlichen Automobilunternehmen ausmachen. So verweisen die MIT-Forscher auf wesentlich höhere Produktivität, schnellere Durchlaufzeiten, weniger Montagefehler und eine beeindruckende Anzahl an Verbesserungsvorschlägen der Mitarbeiter. Hiermit wurde Anfang der 90er-Jahre die „Lean-Welle“ ausgelöst.
„Nach fast schon einem Jahrzehnt der Pseudo-Analysen, Spekulationen, Vermutungen, Thesen, Antithesen und Halbwahrheiten über die Ursachen, Triebfedern und Hintergründe der japanischen Erfolge – die meist motiviert waren durch das krampfhafte Bemühen um Rechtfertigung eigenen Versagens an der Markt- und Kundenfront – wirkte diese erste plausible und ganzheitliche Darstellung von Leistungsparametern fast wie eine erlösende Offenbarung. Schnell wurde die Studie zur Pflichtlektüre einer ganzen Branche. Endlich hielt man den Schlüssel für eigene erfolgverheißende Zukunftsstrategien in der Hand . . .“ ([3], S. 11).
Von dieser „Euphoriewelle“ getragen, wurden Methoden und Elemente aus dem Toyota-Produktionssystem von vielen Wissenschaftlern, Beratungs- und Industrieunternehmen aufgegriffen und weltweit in den Unternehmen eingeführt. Darüber hinaus war die Studie Auslöser einer Flut von nachfolgenden Veröffentlichungen anderer Autoren, die mit ihren Aussagen die Euphorie weiter vorantrieben.
„Lean Production steht für Steigerung der Produktivität, Flexibilität und Qualität und wird damit zu einem Schlüssel für die Zukunftschancen unserer Industrie angesichts der fernöstlichen Herausforderung“ ([2], S. 3).
Auf diese Weise entstand in den westlichen Industrieländern hinsichtlich des Begriffs „Lean Production“ eine große Euphorie, die in Deutschland eine der größten Reorganisationswellen der Nachkriegszeit auslöste (vgl. [1]).
„In der breiten Öffentlichkeit erregte der Begriff der „schlanken Produktion“ Aufsehen, als er bei der Wahl der Gesellschaft für deutsche Sprache zum „Unwort“ des Jahres 1993 auf einem der vorderen Plätze landete“ ([3], S. 1).
In unserem Podcast und diesem dreiteiligen Blog-Beitrag werden einige der wesentlichen Missverständnisse vorgestellt.
Literatur
[1] Eberhardt, S.: Abschied vom Taylorismus. Mitarbeiterführung in schlanken Unternehmungen. Leonberg: Rosenberger Fachverlag, 1995
[2] Institut für angewandte Arbeitswissenschaft (Hrsg.): Lean Production. Idee – Konzept – Erfahrungen in Deutschland. Erweiterte Dokumentation der IfaA-Fachtagung am 18.3.1992 in Stuttgart. Schriftenreihe des IfaA. Band 27, Köln: Wirtschaftsverlag Bachem, 1992
[3] Stotko, C.: Geleitwort zur deutschen Ausgabe: Die Bedeutung des Werkes von Taiichi Ohno für die heutige Industrie. In: Ohno, T.: Das Toyota-Produktionssystem. Frankfurt, New York: Campus Verlag, 1993
[4] Womack, J.; Jones, D.; Roos, D.: Die zweite Revolution in der Autoindustrie. Frankfurt: Campus Verlag, 1991