Lean und kein Ende der Missverständnisse? – Was wir auch heute noch daraus lernen können (Teil 2/3)
Unterstützende Informationen zum Podcast #28 und #29 | Missverständnisse Lean
Missverständnis Aufbauorganisation
Die Interpretation einer Aussage der MIT-Studie, die bis heute für viele Diskussionen und Probleme sorgt, mündete in der Forderung, ohne umfangreiche Hierarchien im Unternehmen und durch schlankere administrative Bereiche auskommen zu müssen, was aber insbesondere mit Blick auf Toyota nicht der Realität entspricht. Während die MIT-Studie den Aspekt der flachen Hierarchien in japanischen Unternehmen verbreitet, sind japanische Großbetriebe in der Realität bis heute streng hierarchisch aufgebaute Strukturen, die über eine Vielzahl von Hierarchieebenen verfügen (vgl. [2]).
In Deutschland verringerten daraufhin viele Unternehmen die Hierarchieebenen und stellten z.B. Meister und Arbeitsvorbereiter frei, besetzten Stellen nicht nach oder integrierten diese in die neu geschaffenen Gruppenarbeitskonzepte. Dies führte zu dem Ergebnis, dass bis heute in vielen Unternehmen Arbeitsvorbereiter, -wirtschaftler oder Fachleute aus dem Industrial Engineering fehlen und eine solide Kennzahlenbasis zur Steuerung und Planung z.T. händeringend vermisst wird. Auch der Aspekt der Führung vor Ort ist damit oftmals aus dem Fokus geraten, da Führungsspannen und administrative Aufgaben für Führungskräfte immer umfangreicher wurden (vgl. [2]).
Missverständnis Gruppenarbeit
Ein weiteres Problem ist, dass die in der MIT-Studie dargelegte Art und Form von Gruppenarbeit, insbesondere bei Toyota, so nicht praktiziert wird (vgl. [1], [2], [3] und [6]). Eine Aussage der MIT-Studie, die damals eigentlich für Verwunderung hätte sorgen sollen, weil „. . . die nicht gerade tiefschürfende Beschreibung des japanischen Produktionssystems in der MIT-Studie merkwürdigerweise verschiedene Hinweise auf die alternativen Konzepte aus der soziotechnischen Tradition, vor allem auf das Konzept der Gruppenarbeit [enthielt]“ ([1], S. 344).
Insbesondere in Europa wurde die Implementierung und Ausgestaltung von Gruppenarbeit im Nachgang der Studie ein „Politikum“. „Einige Gewerkschaftsvertreter und gewerkschaftsnahe Wissenschaftler gerade in Deutschland, Belgien, Frankreich und Italien fanden – auf den ersten Blick – in japanischer Gruppenarbeit ihr verloren geglaubtes Kind wieder. (. . .) Japanische Gruppenarbeit steht als Synonym für Aufgabenintegration, Job Enlargement und Job Enrichment ganz in der Tradition von vorher abgewiesenen oder mißglückten Konzepten zur „Humanisierung der Arbeit“ ([6], S. 11).
Die „westliche“ Form der Gruppenarbeit hat jedoch im Gegensatz zur „japanischen“ Team- bzw. Gruppenarbeit eine nahezu gegensätzliche Zielrichtung. Während, vereinfacht ausgedrückt, dass „westliche“ Gruppenarbeitskonzept eine Humanisierung des Arbeitslebens als vorrangiges Ziel hat, verfolgt die „japanische“ Form der Gruppenarbeit viel stärker Effizienzaspekte.
Die MIT-Studie sah fälschlicherweise in der Gruppenarbeit „. . . die Ursache für die aus ihrer Sicht deutlichen Wettbewerbsvorteile der Japaner. (. . .) Der Fehler vieler klein- und mittelständischer Unternehmen aber auch großer Konzerne in der Vergangenheit war, dass sie eben diese vielgepriesene Gruppenarbeit in den Fokus ihres Interesses stellten und die unterstützenden, jedoch essentiellen Elemente, vernachlässigten oder in extremen Fällen überhaupt nicht beachteten“ ([4], S. 81).
Die in der MIT-Studie empfohlene maximale Delegation von Entscheidungskompetenzen und Verantwortlichkeiten auf jene Arbeiter, die am Fließband Wertschöpfung erbringen, lässt zudem die Frage offen, wie dies mit den Koordinations- und Kontrollfunktionen des Managements vereinbar ist. „Japanische Unternehmen praktizieren keine Gruppenarbeit, motivieren ihre Mitarbeiter nicht durch Entscheidungsdezentralisation und verfügen auch nicht über abgeflachte Hierarchiepyramiden oder ausgedünnte mittlere Managementebenen“ ([3], S. 142).
Missverständnis Unternehmenssystem vs. Produktionssystem
Das größte Problem oder das größte Missverständnis im Zusammenhang mit der operativen Umsetzung der Erkenntnisse der MIT-Studie war bzw. ist bis zum heutigen Tag, dass Lean Production als „schlanke Fertigung“ und nicht als „schlanke Unternehmung“ interpretiert wird. Lean Production führte somit in vielen Unternehmen zu einer „Fehlinterpretation“, die z.B. eine Annäherung an das äußerst erfolgreiche Toyota-Produktionssystem erschwerte, wenn nicht sogar unmöglich machte. Lean Production „ . . . weist weit über die Fertigung in engem Sinne hinaus, bezieht den Vertrieb, die Entwicklung und die Beschaffung mit ein und schließt mit dem Vertrieb wieder den Kreis zum Kunden. Das Konzept reicht aber auch über die Grenzen der Fabrik hinaus zu einer Integration der Zulieferer und Kunden“ ([5], S. 3).
Daher war der Begriff „Lean Production“ für viele Unternehmen leider nicht zielführend, da, wie auch aus Sicht von Toyota erforderlich, letztendlich nicht alle Geschäftsprozesse eines Unternehmens „verschlankt“ wurden bzw. werden. Aus diesem Grund gibt es nur wenige Unternehmen, denen eine umfassende Einführung eines Produktionssystems im Rahmen der Euphorie um Lean Production gelungen ist und das hinsichtlich des Zusammenspiels der einzelnen Elemente und Methoden dem Toyota-Produktionssystem nahekommt.
Literatur
[1] Dankbaar, B.: Der immerwährende Traum vom Ende des Fliessbands: Rückblick – Gegenwart – Blick in die Zukunft. Zeitschrift für Arbeitswissenschaft. Nr. 5, 2002, S. 340-345
[2] Dörich, J.; Neuhaus, R.: Sicherung von Produktionsarbeit – Eine Initiative des Verbandes der Metallund Elektroindustrie Baden-Württemberg e.V. – Ein Erfahrungsbericht aus Deutschland und Japan. In: angewandte Arbeitswissenschaft. Nr. 197, 2008, S. 2-14
[3] Gendo, F.; Konschak, R.: Mythos Lean Production – Die wahren Erfolgskonzepte japanischer Unternehmen. Essen: Verlag Betrieb & Wirtschaft, 1999
[4] Hartmann, H.: Arbeitsstrukturen bei BMW – mehr als nur Gruppenarbeit. In: Institut für angewandte Arbeitswissenschaft (Hrsg.): Ganzheitliche Produktionssysteme. Gestaltungsprinzipien und deren Verknüpfung. Köln: Wirtschaftsverlag Bachem, 2002, S. 81-92
[5] Institut für angewandte Arbeitswissenschaft (Hrsg.): Lean Production. Idee – Konzept – Erfahrungen in Deutschland. Erweiterte Dokumentation der IfaA-Fachtagung am 18.3.1992 in Stuttgart. Schriftenreihe des IfaA. Band 27, Köln: Wirtschaftsverlag Bachem, 1992
[6] Sey, A.: Gruppenarbeit in Japan. Stereotyp und Wirklichkeit. München: Rainer Hampp Verlag, 2001